 
						Sexuelle Gewalt gegen Kinder im Ukraine-Krieg – was habt ihr herausgefunden, Judith Striek?
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[00:00:02.220] - Judith Striek
Es ist so, dass im Prinzip anzunehmen ist, dass Russland sexualisierte Gewalt gegen Kinder als eine
 Kriegstaktik einsetzt. Dass das häufig vorkommt und dass der Wunsch ja sozusagen ist, eine maximale
 Schädigung der Bevölkerung zu erreichen. Der jüngste Fall, der von der unabhängigen Kommission der
 UN dokumentiert worden ist, ist ein vierjähriges Mädchen, die erst Übergriffe gegen ihre eigene Familie
 erleben musste und dann selber vergewaltigt wurde.
[00:00:37.590] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich Willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle
 Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um
 persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was
 ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass Du uns zuhörst. Am 24. Februar jährte sich der russische
 Einmarsch in die Ukraine. Seit zwei Jahren also ist die gesamte Ukraine Kriegsgebiet und seit fast zwei
 Jahren gibt es immer mehr Berichte über sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder in diesem Krieg.
 Nach Angaben der Vereinten Nationen gibt es Hinweise, dass sexueller Missbrauch durch russische
 Soldaten der Ukraine systematisch und als Kriegswaffe eingesetzt wird und davon sind auch Kinder
 betroffen. Die Kindernothilfe hat das genauer untersucht und in einer Studie 13 Fälle von konfliktbedingter
 sexualisierter Gewalt durch russische Soldaten dokumentiert. Das jüngste überlebende Opfer sei erst vier
 Jahre alt gewesen. Dazu kommen 915 Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder in der Ukraine, die noch
 nicht genau dokumentiert sind, aber registriert wurden. Die Dunkelziffer ist, das könnt ihr euch vorstellen,
 wahrscheinlich noch höher. Dr. Judith Striek hat an dieser Studie mitgearbeitet. Sie ist Juristin und auf
 Kinder- und Jugendrechte spezialisiert. Und ich freue mich sehr, dass sie heute hier bei einbiszwei ist.
 Judith Striek herzlich willkommen bei einbiszwei. Schön, dass du da bist.
[00:02:03.590] - Judith Striek
Ja, freut mich.
[00:02:04.340] - Nadia Kailouli
Judith, du bist Juristin mit Fokus auf Menschenrechte und arbeitest bei der Kindernothilfe. Da bist du
 Advocacy Officer. Vielleicht musst du uns einmal erzählen, was das ist.
[00:02:13.970] - Judith Striek
Das kann ich gerne machen. Als Advocacy Officer arbeiten wir im Prinzip in der Politikberatung und
 Lobbyarbeit. Also, das heißt, wir sind so ein bisschen der Kontakt ins politische Berlin von der
 Kindernothilfe und versuchen die Themen, die Kinder-, also besonders die Kinderrechtsthemen, in die
 Politik zu tragen, zu Entscheidungsträgern in die Ministerien zu tragen, um da Werbung dafür zu machen,
 dass Kinderrechte umgesetzt werden sollten.
[00:02:40.820] - Nadia Kailouli
Okay, wichtige Arbeit, die du da machst und vor allem wollen wir heute mit dir zu einem sehr, sehr
 bestimmten Thema sprechen. Und zwar wollen wir mit dir über das Thema sexualisierte Gewalt im
 Angriffskrieg in der Ukraine sprechen. Leider ist dieser Krieg eben schon seit zwei Jahren im Gange und
 unter anderem haben wir hier bei einbiszwei tatsächlich schon über das Thema sexualisierte Gewalt als
 Kriegswaffe gesprochen. Allerdings nicht explizit gegenüber Kinder und Jugendliche. Wie bist du dazu
 gekommen, dich intensiver genau mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, was den Angriff auf die
 Ukraine betrifft?
[00:03:19.370] - Judith Striek
Wir haben uns im Prinzip im Vorfeld zu unseren Recherchen überlegt, dass wir uns mit einem der sechs
 schwerwiegendsten Kinderrechtsverletzungen in der Ukraine beschäftigen wollen und haben so nach
 einer kurzen Vorrecherche uns entschieden, sexualisierte Gewalt als Thema zu nehmen, weil das
 tatsächlich total unterbelichtet ist, sozusagen. Das taucht wenig auf. Und für uns war der Anlass auch so
 ein bisschen das zu verknüpfen mit dem Thema Wiederaufbau, weil im Juni in Deutschland die
 Wiederaufbaukonferenz stattfindet und da so ein bisschen deutlich zu machen, was hat sexualisierte
 Gewalt vielleicht auch mit dem Thema Wiederaufbau zu tun? Das war so ein bisschen der Hintergrund.
[00:04:01.610] - Nadia Kailouli
Ihr habt im Zuge dessen ja eine Studie gemacht. Vielleicht kannst du uns einmal erzählen, was das für
 eine Studie ist und wie man dann da genau rangeht. Vor allem ja als Kinderhilfsorganisation und du als
 Juristin eben auch, die ja selber nicht vor Ort eben war, um da irgendwie eine Aufarbeitungsreise zu
 machen oder so, vielleicht kannst du uns da Einblick mal geben.
[00:04:23.000] - Judith Striek
Also unsere Studie heißt „Kindern ermöglichen, darüber zu sprechen", die habe ich gemeinsam mit
 meinem Kollegen Elias Dehnen geschrieben, der auch Advocacy Officer ist. Und wir haben uns im
 Vorfeld überlegt, dass wir überwiegend mit ukrainischen Akteuren von vor Ort sprechen wollen und dass
 wir mit Menschen sprechen wollen, die mit Kindern, die Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht
 haben, arbeiten und die beraten oder die in dem Bereich forschen oder auch mit staatlichen Stellen vor
 Ort. Und da haben wir Kontakte aufgebaut und dann halt tatsächlich Interviews durchgeführt,
 überwiegend online und teilweise auch in unserem Berliner Büro, weil viele Vertreterinnen aus der
 Ukraine ja auch Reisen, auch in Berlin sind. Und da haben wir uns dann zu sehr vielen unterschiedlichen
 Themen im Prinzip ausgetauscht.
[00:05:17.330] - Nadia Kailouli
Kannst du uns einen Einblick geben, was genau man da fragt?
[00:05:21.770] - Judith Striek
Sehr gute Frage, was genau man da fragt. Also ich. Ja, wir haben viel gefragt dazu, ob es also, ob sie
 Kenntnisse haben zu Fällen von sexualisierter Gewalt, ob sie den Eindruck haben, dass die Zahlen, die
 es gibt, im Prinzip die Realität widerspiegeln. Und wir haben sehr viel eigentlich darüber gesprochen, was
 sind die Gründe, warum wir davon ausgehen müssen, dass es eine sehr hohe Dunkelziffer gibt. Also was
 sind die Gründe, warum Familien das nicht anzeigen, warum sie das nicht öffentlich machen wollen,
 warum sie darüber nicht reden können? Ich weiß nicht, ob ich vielleicht zu den Zahlen noch mal was
 sagen soll?
[00:06:01.042] - Nadia Kailouli
Ja, auf jeden Fall, gerne.
[00:06:01.150] - Judith Striek
Also wir haben uns in der Recherche dann entschieden, die Zahlen von der Generalstaatsanwaltschaft
 der Ukraine zu verwenden. Die haben eine eigene Abteilung zu konfliktbezogener sexualisierter Gewalt
 eingerichtet und führen eine Statistik. Und es gibt 13 Fälle konfliktbezogener sexualisierter Gewalt gegen
 Kinder. Und es gibt 915 Fälle allgemeiner sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Der Unterschied liegt halt
 so darin, dass die konfliktbezogene Gewalt was mit dem bewaffneten Konflikt zu tun hat, was meistens
 heißt, dass der Täter ein russischer Soldat war. Die allgemeine sexualisierte Gewalt, das sind die Fälle,
 die wir hier im Prinzip auch kennen, wo die Übergriffe von vielleicht Familienmitgliedern oder Verwandten
 oder Bekannten begangen werden.
[00:06:53.860] - Nadia Kailouli
Dann aber innerhalb dieser Kriegssituation dann oder unabhängig davon?
[00:06:59.950] - Judith Striek
Also ich würde sagen, dass die Kriegssituation insgesamt oder - das ist, was uns berichtet wurde - die
 Kriegssituation insgesamt lässt die Fälle grundsätzlich auch ansteigen, weil es eine hohe, also ein hohes
 Stresslevel im Prinzip gibt für alle Menschen, die vor Ort leben, in bestimmten Lebenssituationen noch
 viel mehr. Viele sind ja auch innerhalb der Ukraine vertrieben, leben in Wohnverhältnissen, in denen sie
 sonst nicht gelebt haben, haben vielleicht ihren Job verloren, Verwandte sind irgendwie an der Front und
 kämpfen. Und das führt leider ja auch dazu, dass Übergriffe gegen Kinder stattfinden. Also insgesamt
 kann man sagen, dass das Gewaltniveau innerhalb der Ukraine gestiegen ist und dass besonders auch
 sexualisierte Gewalt gegen Kinder zugenommen hat.
[00:07:48.490] - Nadia Kailouli
Warum war euch das so wichtig, das einmal zu dokumentieren und in einer Studie aufzuarbeiten?
[00:07:55.480] - Judith Striek
Weil wir den Eindruck hatten, dass darüber zu wenig gesprochen wird und dass im Prinzip zu wenig
 Berücksichtigung findet. Einerseits in der Berichterstattung über die Ukraine allgemein und aber auch
 bezogen auf das Thema Wiederaufbau. Also es gibt ja viele Überlegungen, wie Wiederaufbau stattfinden
 soll. Und in der Ukraine ist so ein bisschen ja die Besonderheit, dass quasi schon während des
 bewaffneten Konfliktes auch der Wiederaufbau vorangetrieben wird. Und so wie bisher Wiederaufbau von
 der ukrainischen Regierung thematisiert wird, ist, dass Straßen, Brücken, Häuser bauen, was total wichtig
 ist und Privatwirtschaft fördern, was auch total wichtig ist, aber aus unserer Sicht kamen die Menschen
 und die Erfahrungen, die die Menschen gemacht haben, zu kurz. Und gerade wenn man sexualisierte
 Gewalt erlebt hat, zum Beispiel, braucht man halt Beratungsangebote, Unterstützungsangebote und
 wenn das Kinder sind, dann müssen das kindgerechte Angebote sein. Und die müssen ja auch gefördert
 werden, die müssen zugänglich sein, die müssen vielleicht niedrigschwellig sein. Da hatten wir den
 Eindruck, dass das einfach bisher zu kurz gekommen ist.
[00:09:08.200] - Nadia Kailouli
Ich würde jetzt gerne noch mal auf diese 13 konfliktbasierten Fälle kommen, wo ihr ja sagt, da könnt ihr
 mit ziemlicher Sicherheit ja sagen, dass die Täter eben russische Soldaten waren. Durch wen habt ihr
 das erfahren, dass das so ist?
[00:09:27.460] - Judith Striek
Also diese Fälle sind ja tatsächlich die Fälle, die die Generalstaatsanwaltschaft erhoben hat und verfolgt.
 Also das sind die, wo es zu einer Anzeige gekommen ist. Das ist so, dass quasi die Akten nicht einsehbar
 sind, weil das ja laufende Fälle sind. Deshalb können wir das jetzt nicht mit hundertprozentiger Sicherheit
 sagen, dass es russische Soldaten sind. Aber es ist so, dass im Prinzip anzunehmen ist, dass Russland
 sexualisierte Gewalt gegen Kinder als eine Kriegstaktik einsetzt. Also, dass das häufig vorkommt und
 dass der Wunsch ja sozusagen ist, eine maximale Schädigung der Bevölkerung zu erreichen und in
 gewisser Weise auch die Bevölkerung zu terrorisieren. Vielleicht deshalb auch die Übergriffe gegen
 tatsächlich sehr junge Kinder also, die der jüngste Fall, der von der unabhängigen Kommission der UN
 dokumentiert worden ist, ist ein vierjähriges Mädchen, die erst Übergriffe gegen ihre eigene Familie
 erleben musste und dann selber vergewaltigt wurde. Und ja, das wird halt taktisch eingesetzt. Das ist ja
 auch nichts Neues, das ist nicht nur in diesem bewaffneten Konflikt so, das ist leider schon sehr lange
 eine Taktik, die man einsetzen kann, um eben möglichst viel Schaden auf der Gegenseite zu erreichen.
[00:10:51.190] - Nadia Kailouli
Eine absolute Traumatisierung eben von Menschen, die dann in dieser Kriegssituation, die ja schon
 traumatisierend genug ist, dann eben auch noch sexualisierte Gewalt erfährt und dass dann eben ja, wie
 man schon sagt, einen absoluten Schaden dann verübt an diesen Menschen. Warum ist euch das so
 wichtig gewesen zu sagen: "Wir müssen das jetzt mal festhalten, wir müssen in die Recherche gehen, wir
 müssen mit Organisationen von vor Ort sprechen und diese Zahlen eben dokumentieren." Warum ist es
 so wichtig, dass wir, die eben nicht vor Ort sind in der Ukraine, die nicht Kriegsbetroffene sind, davon so
 explizit dann auch wissen, wer, wie, wo, was mit sexualisierter Gewalt eben Krieg unter anderem auch
 führt?
[00:11:33.640] - Judith Striek
Also ich glaube uns als Kinderrechtsorganisation ist das total wichtig deutlich zu machen, dass da
 Kinderrechtsverletzungen passieren und wir quasi nicht wegschauen dürfen. Ich glaube, uns ist auch
 wichtig, quasi denen, die gerade selbst keine Stimme haben oder sie nicht quasi in der Öffentlichkeit
 einsetzen können, eine Stimme zu geben und darauf aufmerksam zu machen, dass da halt großes
 Unrecht geschieht. Und natürlich auch der Wunsch, dass die Organisationen, die vor Ort tätig sind,
 Angebote schaffen, die eben Kinder und Jugendliche und ihre Familien bestmöglich unterstützen können.
[00:12:12.490] - Nadia Kailouli
Jetzt haben wir ja eben gerade von 13, ich muss das noch mal sagen 13 konfliktbasierten Fällen
 gesprochen. Und du hattest aber eingangs ja auch gesagt, dass wir hier auch von einer Dunkelziffer
 sprechen. Also man kann davon ausgehen, dass es viel, viel mehr Fälle gibt. Du hast aber eben auch
 gesagt, dass nicht alle angezeigt werden. Habt ihr Antworten darauf gefunden, warum so wenig
 angezeigt werden?
[00:12:35.200] - Judith Striek
Genau. Also das ist glaube ich auch in der Studie halt sehr gut dargestellt, wie vielfältig die Gründe sind,
 warum das nicht angezeigt wird. Ein großer Aspekt ist die Stigmatisierung, die es innerhalb der
 ukrainischen Bevölkerung gibt. Also, da tauchen dann Fragen auf, ob man nicht vielleicht mit dem Feind
 kollaboriert hat. Es hat auch ein bisschen was mit Rollenvorstellungen zu tun. Es ist außerdem so, dass
 natürlich aus den besetzten Gebieten zum Beispiel bisher so gut wie nichts angezeigt werden kann.
 Beziehungsweise gibt es da vermutlich auch Anzeigen, die dann aber von der russischen Seite verfolgt
 werden und im Nichts landen, sozusagen. Das andere ist, dass viele Menschen, die in befreiten
 Regionen leben, große Angst davor haben, dass russische Soldaten zurückkehren könnten und sich
 deshalb scheuen das anzuzeigen. Ich glaube, für viele Menschen ist es tatsächlich nicht der erste Gang
 und die wichtigste Aufgabe, sondern sie sind einfach mit dem Überleben beschäftigt, tatsächlich. Was wir
 von der Partnerorganisation, mit der wir zusammenarbeiten, gehört haben, ist, dass sie sich ausgetauscht
 haben, zum Beispiel mit Frauenrechtsorganisation in Bosnien und Herzegowina, die ja ähnliche
 Erfahrungen gemacht haben in dem Bosnienkrieg, dass es wahrscheinlich erst fünf Jahre nach
 Beendigung des Konfliktes wird der Höhepunkt sozusagen erreicht sein, wo die meisten Anzeigen
 eingehen werden, wo die meisten darüber reden werden, weil es so viele Gründe gibt, warum man vorher
 nicht darüber reden kann.
[00:14:12.760] - Nadia Kailouli
Jetzt wollt ihr ja mit der Studie, du hast es gerade gesagt, auf der einen Seite aufklären, auf der anderen
 Seite überhaupt eine Sensibilität dafür schaffen, inwieweit dann eben auch in einem Angriffskrieg Kinder
 und Jugendliche eben von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Und gleichzeitig wollt ihr Organisationen
 vor Ort irgendwie Unterstützung anbieten. Wie kann man die denn unterstützen, wenn es darum geht,
 Kinder davor zu schützen, wenn das überhaupt möglich ist? Oder Kinder, die betroffen sind von
 sexualisierter Gewalt, dann gut in Obhut zu nehmen und für die da zu sein?
[00:14:45.520] - Judith Striek
Also die Kindernothilfe ist ja eine spendenbasierte Organisation, die eben die Spendengelder auch in der
 Ukraine einsetzt, auch in Moldau und Rumänien und wir damit Partnerorganisationen-Projekte umsetzen,
 wo wir eben Betroffene Kinder und Jugendliche und ihre Familien unterstützen. Zum Beispiel gibt es
 mobile Beratungsteams, die in Regionen reisen, die vielleicht nicht so einfach zugänglich sind, um
 einerseits psychologische Beratung vor Ort zu leisten und auch juristische Beratung. Außerdem werden
 kinderfreundliche Orte geschaffen, wo Kinder hinkommen können, um einfach erst mal anzukommen, um
 dann vielleicht aber auch irgendwann über das zu sprechen, was sie erlebt haben und da eben
 professionelle Begleitung erfahren können. Das sind zum Beispiel Möglichkeiten, wie man das
 unterstützen kann.
[00:15:41.680] - Nadia Kailouli
Jetzt hat ja die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft auch eine Abteilung für konfliktbezogene Fälle
 sexualisierter Gewalt eingerichtet. Habt ihr euch das angeschaut und wenn ja, wie bewertet ihr das?
[00:15:54.100] - Judith Striek
Also wir haben uns die Strategie angeschaut, die quasi hinter dieser Abteilung steht, wie sie das quasi
 umsetzen wollen. Und es gibt da sehr gute Ansätze drin. Also zum einen, einen Ansatz zu fahren, der
 sich an den Interessen der Überlebenden orientiert, also der quasi das ins Zentrum stellt, was die
 Überlebenden eigentlich brauchen und nicht unbedingt, was die Ermittler:innen brauchen. Und zum
 Beispiel Ermittler:innen auch zu sensibilisieren, wie man mit Opfern oder mit Überlebenden von
 sexualisierter Gewalt reden sollte, wie man Sachen thematisieren kann, wie viel Zeit sie vielleicht auch
 brauchen, bevor sie über Dinge tatsächlich reden können. Weil das zum Beispiel auch eines der
 Probleme ist, die wir gespiegelt bekommen haben, dass es oft eine sehr unsensible Vorgehensweise gibt.
 Und die Generalstaatsanwaltschaft hat sich in dieser Strategie überlegt, dass sie das in die Region tragen
 wollen und quasi so ein Netz an Multiplikatoren schaffen wollen, die das dann sozusagen über das Land
 verteilt an die richtigen Stellen bringen, sodass das so ein flächendeckender Ansatz werden soll. Das
 wäre zu begrüßen, wenn das so klappt.
[00:17:08.970] - Nadia Kailouli
Glaubst du denn, nach den Erkenntnissen, die du jetzt hast, durch die Gespräche, die ihr geführt habt,
 dass die Bevölkerung dahingehend schon sensibilisiert genug ist zu sagen: "Ja, das können wir
 annehmen, ohne weiterhin die Angst zu haben zu sagen, wenn wir das jetzt annehmen und dann
 kommen die russischen Truppen zurück, dann sind wir in größerer Gefahr, als wir vorher schon waren?"
[00:17:29.820] - Judith Striek
Also ich glaube, da gibt es tatsächlich mehrere Aspekte. Das ist der eine Aspekt, die Angst vor den
 russischen Truppen, die zurückkehren könnten, die natürlich nicht von der Hand zu weisen ist und die ja
 tatsächlich auch lebensbedrohlich ist. Und das andere ist, dass es tatsächlich in der Bevölkerung
 insgesamt, glaube ich, nicht so eine ausgeprägte Sensibilität gibt, was eigentlich sexualisierte Gewalt ist.
 Also gerade viele Kinder haben wahrscheinlich sexualisierte Gewalt erfahren und sind sich dessen gar
 nicht bewusst oder suchen teilweise die Schuld für das, was passiert ist bei sich selbst. Also da ist noch
 Aufklärung tatsächlich notwendig. Ja.
[00:18:13.200] - Nadia Kailouli
Jetzt würde ich gerne etwas vorlesen, was in der UN-Kinderrechtskonvention steht. Da steht nämlich:
 "Kinder haben ein Recht auf Schutz vor Gewalt und ein Recht auf Schutz vor sexuellem Missbrauch."
 Wenn man sich jetzt eure Studie anschaut, dann kann man sagen diesen Schutz haben die oder viele
 Kinder und Jugendliche in den Kriegsregionen in der Ukraine nun nicht. Inwieweit kann eure Studie da
 unterstützen, dass man sagt, dass die UN-Kinderrechtskonvention das auch so einhalten kann, was sie
 verschriftlicht hat?
[00:18:47.940] - Judith Striek
Ja, also ich meine, bei der Kinderrechtskonvention muss man sich ja immer fragen, an wen richtet sich
 das eigentlich? Und das richtet sich natürlich an die Staaten, die sie unterzeichnet haben und wenn ich
 mich nicht irre, hat auch Russland die Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Und das ist natürlich der
 erste Adressat dafür, quasi keine Übergriffe gegen Kinder und Jugendliche in der Ukraine mehr
 zuzulassen. Da ist eben die Frage, inwieweit das bisher eigentlich ein Thema ist. Vermutlich ja eher nicht.
 Also wir gehen davon aus, dass es zumindest ja geduldet wird, dass es Übergriffe gibt. Und die Frage ist
 natürlich, könnte die ukrainische Regierung mehr tun? Ich glaube, das ist in einem bewaffneten Konflikt
 tatsächlich schwierig. Also ich glaube schon, dass sie das, was sie umsetzen können, umsetzen, um die
 Bevölkerung zu schützen. Aber ja, das ist halt tatsächlich eine sehr schwierige Situation.
[00:19:46.380] - Nadia Kailouli
Jetzt würde ich gerne noch mit dir auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen, der jetzt mit eurer
 Studie nichts zu tun hat, aber der euch als Kindernothilfe ja durchaus auch bestimmt interessiert. Und
 zwar sind ja im Zuge des Angriffskrieges viele Menschen, gerade Frauen und Kinder, aus der Ukraine
 geflüchtet, und zwar unter anderem nach Deutschland geflüchtet. Und auch da wurde bekannt, dass
 Frauen und Kinder ja Missbrauchserfahrungen gemacht haben. Inwieweit beobachtet ihr das?
[00:20:14.460] - Judith Striek
Das ist ein total wichtiges Thema und ein total drängendes Thema, glaube ich auch. Da wir aber
 eigentlich in unserer Arbeit eher mit Partnerorganisationen vor Ort arbeiten, also ja eigentlich mehr in der
 Entwicklungszusammenarbeit arbeiten, bearbeiten wir das Thema hier in Deutschland eher nicht. Das
 sind dann andere Organisationen, die das aufgreifen. Aber klar, das ist auch ein total wichtiges Thema,
 die Menschen, die geflüchtet sind, zu begleiten und auch zu unterstützen. Und da natürlich auch die
 Frage, wenn Kenntnis von sexualisierter Gewalt auftaucht, das vielleicht weiter zu verfolgen.
[00:20:53.310] - Nadia Kailouli
Welche Unterstützung glaubt ihr denn, oder ja, sind eure Erkenntnisse, die jetzt eben Organisationen vor
 Ort brauchen? Nicht nur durch diese Studie, sondern grundsätzlich durch den Krieg, der da ja immer
 noch stattfindet, um zu sagen, ok, das würdet ihr euch als Kindernothilfe, abgesehen davon, dass ihr die
 Organisation mit Spenden basierten Mitteln unterstützt, was könnt ihr darüber hinaus adressieren, was
 die Leute vor Ort wirklich brauchen, um Kinder vor sexualisierter Gewalt zu schützen in dieser
 Kriegssituation?
[00:21:26.150] - Judith Striek
Ich glaube, was wichtig ist, ist, dass es natürlich zum einen quasi nicht genügend geschultes Personal
 gibt, also gerade Psychotherapeut:innen oder Menschen, die psychosoziale Unterstützung leisten
 können. Das ist tatsächlich dringend notwendig. Und das geht dann auch noch ein bisschen weiter,
 tatsächlich eine traumasensible Fortbildung von Therapeut:innen zu ermöglichen, um auf die Themen
 einzugehen. Insgesamt fehlt es in der Ukraine natürlich an vielen Dingen, das, was wir von ukrainischen
 Jugendlichen lesen, ist der große Wunsch, mehr Räume zu haben, wo sie sich austauschen können, weil
 sie sich einfach tatsächlich häufig gar nicht mehr sehen. Also die machen ihren Schulunterricht online und
 haben wenig Möglichkeiten, irgendwo zusammenzukommen. Da besteht auch der große Wunsch, zum
 Beispiel Schulunterricht nach Möglichkeit vor Ort stattfinden zu lassen. Aber das hängt natürlich immer
 sehr von der Situation im jeweiligen, in der jeweiligen Stadt ab.
[00:22:33.440] - Nadia Kailouli
Und die Punkte, die davor angesprochen hast, eben therapeutische Unterstützung, die jetzt so nicht vor
 Ort oder nicht in der Größe vor Ort eben stattfinden kann, da sind wir ja dann wieder auch beim
 Wiederaufbau ne, in der Verarbeitung, in dem damit umgehen, was ist mir da eigentlich passiert? Gibt es
 denn Möglichkeiten, dass ihr Leute, ja, stellt, dass ihr sagt: "Okay, wir haben mit anderen Organisationen,
 die jetzt noch nicht in der Ukraine sind, zum Beispiel irgendwelche Modelle", dass man sagt: "Wir
 schicken jetzt irgendwie therapeutische Unterstützung in Gebiete, in Schulen oder so um, um damit
 aufzuarbeiten?"
[00:23:09.140] - Judith Striek
Das ist eine gute Frage. Also ich glaube, ich glaube, es gibt einfach einen großen Mangel an
 psychotherapeutisch geschulten Menschen überall. Also das stellen wir ja leider auch in Deutschland
 fest, dass es da einen großen Mangel gibt, gerade für Kinder und Jugendliche. Ein Ansatz, den es in der
 Ukraine gibt, ist die Frage, ob man auch Student:innen, die Psychologie studieren, mit einbinden kann.
 Da sind die Ansichten, glaube ich, so ein bisschen zwiegespalten. Also ja, wir entsenden in dem Sinne
 kein Personal, aber wir würden das durchaus auch unterstützen, wenn Organisationen da Kooperationen
 eingehen.
[00:23:47.300] - Nadia Kailouli
Jetzt habt ihr diese Studie gemacht, die wahnsinnig wichtig ist, weil sie einfach noch mal in einem Papier
 zusammenfasst, wie die Lage eben ist, was sexualisierte Gewalt in der Ukraine betrifft, aufgrund des
 Angriffskrieges. Und jetzt fragt man sich natürlich: "Und jetzt?" Jetzt gibt es diese Studie und da steht es
 jetzt schwarz auf weiß und jeder weiß dann auch die Dunkelziffer ist noch größer als das, was da
 verschriftlicht ist. Was macht man jetzt darüber hinaus?
[00:24:12.500] - Judith Striek
Ja, also für uns ist im Moment tatsächlich ein großes Thema die Wiederaufbaukonferenz. Also die wird ja
 aktuell tatsächlich geplant zwischen der deutschen Regierung und der ukrainischen Regierung. Also soll
 weiterhin wahrscheinlich eine High-Level-Konferenz sein. Unser Wunsch ist, dass auch Kinder und
 Jugendliche da zu Wort kommen. Nicht unbedingt zum Thema sexualisierte Gewalt, weil das sicherlich
 nicht ein Thema ist, mit dem man sich jetzt auf so eine Konferenz in die Öffentlichkeit unbedingt begeben
 würde, aber auch zum Thema Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Ukraine im
 Wiederaufbau. Das ist ein Thema, wo wir denken, da fehlt es eigentlich noch in der Konferenz, weil es
 wird ganz viel über die Jugendlichen gesprochen, die ja auch oft als so Hauptleidtragende des Konfliktes
 identifiziert werden. Einerseits, weil sie geflüchtet sind, weil ihre Bildung unterbrochen ist und weil sie
 eben auch zum Beispiel Opfer von sexualisierter Gewalt werden. Aber es wird sehr selten mit ihnen
 gesprochen, wie sie sich vielleicht auch Wiederaufbau vorstellen oder was ihnen im Moment total wichtig
 wäre. Aber es ist noch sehr unklar, inwieweit tatsächlich so diese weicheren Themen beim Wiederaufbau
 eine Rolle spielen werden. Ich glaube, die ukrainische Regierung verfolgt halt schon einen bestimmten
 Ansatz. Die wollen natürlich möglichst viele Mittel generieren für den Wiederaufbau, was auch
 nachvollziehbar ist, weil das total wichtig ist. Es wird halt einen Teil soziale Dimension geben als Thema,
 worunter dann eben auch solche Themen wie Unterstützung der Zivilgesellschaft fallen wird.
[00:25:57.980] - Nadia Kailouli
Jetzt bist du, Judith, seit November 2023 eben Advocacy Officer bei der Kindernothilfe und hast
 sozusagen jetzt schon deine erste Studie dort veröffentlicht zu dem Thema sexualisierte Gewalt im
 Kriegsgebiet in der Ukraine. Wie, wie kann ich mir das jetzt vorstellen, wie es bei dir weitergeht? Hat man
 das jetzt so ich will nicht sagen abgearbeitet und gibt das dann ab und guckt sich dann was anderes an?
 Oder bleibt man jetzt, so lange man da jetzt eben bei der Kindernothilfe ist, in dem Themenbereich drin
 als Politikberaterin und guckt jetzt, dass es auch wirklich dann irgendwo platziert wird, wenn sich da
 Politiker:innen treffen.
[00:26:34.730] - Judith Striek
Also ich glaube, es ist ein bisschen beides. Also wir werden das Thema natürlich weiter mitnehmen, weil
 es eine der sechs schwerwiegendsten Kinderrechtsverletzungen ist, die in der Ukraine im Moment
 stattfinden und wahrscheinlich ja einfach auch ein Thema ist, was die Bevölkerung noch sehr, sehr lange
 beschäftigen wird und die Kinder und Jugendlichen auch, die selber Erfahrungen gemacht haben. Und
 auch wenn sie selbst nicht die Erfahrung gemacht haben, kriegen sie ja mit, was in der Gesellschaft
 passiert und das wird sie noch sehr lange beschäftigen. Und insofern werden wir das Thema jetzt nicht
 ad acta legen und sagen: "So, fertig, jetzt machen wir was anderes." Aber sicherlich werden wir uns auch
 noch mal andere Schwerpunktthemen angucken, weil die Liste der Kinderrechtsverletzungen in der
 Ukraine ist halt leider sehr, sehr lang. Und die Idee ist halt, möglichst viele Entscheidungsträger:innen
 dafür zu sensibilisieren, dass das Thema nicht in Vergessenheit geraten darf.
[00:27:29.660] - Nadia Kailouli
Umso toller ist es, dass du heute hier bei uns bei einbiszwei bist und mit uns darüber gesprochen hast.
 Vielen Dank, Judith Striek, danke dir.
[00:27:38.450] - Judith Striek
Vielen Dank für die Einladung.
[00:27:42.920] - Nadia Kailouli
Ja, das waren finde ich, sehr, sehr wichtige Einblicke, die wir da mal bekommen haben in diese
 Studienarbeit zu sexualisierter Gewalt in der Kriegssituation, in der sich ja die Ukraine durch die
 russischen Truppen befindet. Und was ich so krass finde, ist halt, dass sie halt eben sagt ja, es geht jetzt
 nicht nur darum zu dokumentieren, sondern es geht ja vor allem auch um den Wiederaufbau. Und der
 heißt eben nicht nur Häuser wiederaufbauen, Brücken wiederaufbauen, eine Infrastruktur
 wiederherstellen, sondern eben auch Menschen in dem Sinne wieder aufbauen, die eben sexualisierte
 Gewalt erlebt haben, eben vor allem Kinder. Weil wir wissen das, ja, sexualisierte Gewalt ist traumatisch
 und da braucht es eben Unterstützung, dass man damit irgendwie weiterlebt. An dieser Stelle möchte ich
 mich auch ganz herzlich mal bei Euch bedanken, dass ihr uns so treu zuhört und dass ihr auch bei
 schwierigen Themen dranbleibt. Wenn ihr wollt, dann folgt uns doch gerne, abonniert unseren Kanal und
 wenn ihr uns persönlich einmal schreiben wollt, dann könnt ihr das natürlich sehr gerne tun. Eine Email
 könnt ihr einfach schreiben an presse@ubskm.bund.de.
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Nach Angaben der Vereinten Nationen gibt es Hinweise, dass sexueller Missbrauch durch russische Soldaten in der Ukraine systematisch und als Kriegswaffe eingesetzt wird – und davon sind auch Kinder betroffen.
Die Kindernothilfe hat das genauer untersucht und in einer Studie 13 Fälle von „konfliktbedingter sexualisierter Gewalt“ durch russische Soldaten dokumentiert. Das jüngste überlebende Opfer sei erst vier Jahre alt gewesen.
Hinzu kommen 915 Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder in der Ukraine, die noch nicht genau dokumentiert sind, aber registriert wurden. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch höher.
 
									Dr. Judith Striek ist „Advocacy Officer Ukraine” bei der Kindernothilfe. Sie hat die Studie mit ihren Kolleg:innen durchgeführt und berichtet bei einbiszwei, wie russische Soldaten gezielt sexuelle Gewalt gegen Kinder ausüben, um die Bevölkerung zu traumatisieren.
LINKSAMMLUNG:
Website der Kindernothilfe
kindernothilfe.de
Hier wird die erwähnte Studie zusammengefasst
“Executive Summary - Sexualisierte Gewalt gegen Kinder in der Ukraine”
Wozu sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe dient
t-online | Sexualisierte Gewalt im Ukraine-Krieg "Kinder sollen nachhaltig geschädigt werden"
Kinder und Jugendliche sind die Verlierer des Kriegs
vorwärts | Putins Krieg gegen die Ukraine: „Kinder und Jugendliche sind die Verlierer“
